Sonntag, 8. November 2015

Lewis Bryan: "Harmony, USA"

Auf den ersten Blick scheint Harmony ein, nun ja, harmonisches amerikanisches Städtchen zu sein, doch die Idylle trügt: Denn an diesem einen nebligen Morgen ist das Auffälligste an Harmony die von einer Ampel an der Hauptstrasse herunterbaumelnde, blutige Leiche des jungen farbigen Mannes TJ Bucknell, dessen Mord sich niemand erklären kann.

Doch für Reverend Michaels, den Geistlichen der örtlichen Baptistengemeinde, ist sofort klar, dass sich dahinter wahrscheinlich rassistische Motive finden lassen und er ist sicher, dass die Polizei die Ermittlungen schleifen lässt, da es sich doch „nur“ um einen schwarzen Mitbürger handeln würde; sich diffuserweise durch TJs Tötung persönlich angegriffen fühlend, versucht er seine Gemeinde aufzuwiegeln … aber wieso reagiert er überhaupt derart extrem auf den Tod TJs?

Da der Killer hier als Erzähler auftritt, weiss der Leser von Anfang an, dass a) TJ nicht wegen seiner Hautfarbe ermordet wurde und dass er b) nicht das erste Mordopfer des Täters war. Zudem klingt es c) ganz danach, als solle TJ auch nicht der letzte Tote sein.

Aber was treibt den Mörder an, und was treibt den Reverend an?

Lewis Bryan: "Harmony, USA"


Manchmal verweise ich hier auf dem Blog  ja auf englische eBooks, die zum Zeitpunkt der Beitragsveröffentlichung kostenlos auch bei amazon.de erhältlich sind: In diesem Zusammenhang wurde Mitte Juli beispielsweise auch auf Lewis Bryan’s „Harmony, USA“ verwiesen: Diesen, nunmehr 3,66€ kostenden, Roman habe ich damals selbst auch bezogen und mir damit gestern einen spannenden Abend beschert.

Die Seitenzahl einer, zumindest via amazon.com erhältlichen, Printausgabe wird mit 177 beziffert: hierbei handelt es sich also eher um einen Kurzroman und definitiv nicht um einen dicken Schinken; dabei passte der Umfang aber absolut zur Geschichte, die sich hauptsächlich in den wenigen Tagen nach TJs Tod abspielt, obschon auch diverse früher stattgefundene Begebenheiten berichtet haben.
Wie gesagt: Der Mörder erzählt in diesem Fall die Geschichte und erwähnt dieser gleich zu Beginn nach dem bildhaften Schildern von TJs Auffindesituation, dass „it was some of my best work“, erkennt man natürlich mit Befremden, dass der Täter wohl nicht zum ersten Mal gemordet hat und dass er zudem recht stolz auf den Mord an TJ und dessen „Arrangieren“ ist.
Da fühlte ich mich doch auch erst etwas unbehaglich, erzähltechnisch in der Haut dieses vermeintlichen Irren zu stecken und das Unwohlsein wurde noch dadurch bestärkt, dass gleich darauf offensichtlich wurde, dass der Täter innerhalb Harmonys eine gewisse Respektsposition innehaben musste, denn er konnte doch sehr privat mit der Polizei und auch TJs Familie reden und schien auch das Vertrauen des Reverend zu geniessen.
Aber hier gibt es noch keine spezifischen Hinweise auf die Identität des Täters; man wusste nur, dass er eben sozusagen auch im Zentrum stand, aber offenbar als völlig unverdächtig galt.


Nach 30% finden sich in Aussagen des Täters, in denen er aus seiner persönlichen Vergangenheit erzählt, erste Hinweise auf seine Identität, die mich erst etwas ungläubig auf den Kindle starren liessen, denn ich hatte nicht damit gerechnet, dass es diese Person sein würde, die TJ getötet hatte, aber nach knapp 40% erzählt der Mörder eher beiläufig, wer er tatsächlich ist – und spätestens ab diesem Moment beginnt man sich auch ein wenig mit dem Täter zu solidarisieren.
Denn nun werden Hintergründe erläutert, wann jener Mensch zum ersten Mal wen warum ermordet hatte, man durchschaut immer mehr, wieso er TJ hat sterben lassen und man ahnt ab diesem Zeitpunkt auch, wen er als sein nächstes Opfer auserkoren hat.  
Über die Motive möchte ich mich nun nicht gross auslassen, da es meiner Meinung nach ein zu grosser Spoiler wäre, da die Frage nach dem Motiv die Spannung eben auch stark vorantreibt und hier für ein erschütterndes Überraschungsmoment sorgt, aber für mich waren die Morde durchaus nachvollziehbar: Hier geht es insbesondere um Selbstjustiz, auch Rache und Prävention, und auch wenn ich Selbstjustiz nicht gutheisse, konnte ich eben doch verstehen, wieso man zum Mörder geworden war.
Ehrlich gesagt dachte ich bei der Schilderung des ersten begangenen Mords, der sich in die Jugend des Täters zurückdatieren liess, sogar: „Sch…, wow, was bist du doch für ein taffes Ding!“
Allerdings gab es auch Todesfälle, bei denen ich zunächst überlegte, wieso diese Opfer auch hatten sterben müssen, aber wie gesagt: Ich will nicht zu sehr spoilern, also eigentlich gar nicht, und letztlich wurden die Beweggründe aber immer erläutert.

Raffiniert ist es natürlich auch, dass man den nun auf dem Kriegspfad wandelnden Reverend eingangs noch eher verächtlich  als  jemand, der „sinnlose Selbstjustiz“ unterstützt, abtut, während man später allerdings den definitiv als eine Art Rächer agierenden Mörder insgeheim vielleicht sogar in seinem Treiben anfeuern möchte.
Ich fand mich irgendwann auch an einem Punkt stehend wieder, an dem ich hoffte, dass der Täter unentdeckt  bleiben würde, wobei es dem Täter recht egal zu sein schien, erwischt zu werden: Da hatte ich das Gefühl, dass er zwar hoffte, in seinem Tun vorerst nicht unterbrochen zu werden, aber dass, sollte er letztlich alle die getötet haben, von denen er meinte, sie ermorden zu müssen, und daraufhin erwischt werden, er konsequent zu all seinen Taten stehen würde. Reue war hier nie zu erkennen, hätte aber auch nicht zu den Beweggründen des Täters gepasst.

Ich empfand „Harmony, USA“ als sehr spannend, wobei die Spannung deutlich intensiviert wurde, nachdem man wusste, wer der Täter war und auch dessen Motive kennenzulernen begonnen hatte, so dass hier auch grösseres Identifikationspotential entstand.
Dabei ist die gesamte Geschichte zwar sehr dicht gewebt, bewirkt auch so manchen Kloss im Hals, aber mir fiel doch auch ganz besonders die unglaubliche Gelassenheit des erzählenden Täters auf, mit dem alles berichtet wurde.
Da war „Harmony, USA“ trotz seiner Thematik bis zuletzt doch ein faszinierend ruhig erzähltes Buch.
„Harmony, USA“ ist einfach von einer sehr ungewissen Spannung durchzogen; als Thriller würde ich diesen Roman nicht unbedingt bezeichnen, ein klassischer Krimi ist es selbstverständlich, schon allein wegen der Erzählperspektive her, auch nicht: Es ist schon mehr ein psychologisches Drama, wenn dies auch zweifelsohne im Bereich der Spannungsliteratur anzusiedeln ist.
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Lewis Bryan: „Harmony, USA“ - konnte mich mit seiner mysteriösen Ausstrahlung  definitiv faszinieren!
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„Harmony, USA“ von Lewis Bryan, veröffentlicht am 22.04.2015
Amazon: Kindle eBook (3,66€)*

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