Dienstag, 4. Oktober 2016

Patty Blount: "Some Boys"

Auch etwas mehr als einen Monat, nachdem die Schülerin Grace ihren Mitschüler Zac, einen der populärsten Jungs an ihrer Highschool, nach einer Party der Vergewaltigung bezichtigt hat, geht sie stoisch Tag für Tag zur Schule: einer Schule, in der ihr offensichtlich niemand Glauben schenken mag; einer Schule, in der sie sich nicht nur als Lügnerin, sondern auch als Schlampe, bezeichnen lassen muss.
Alle wissen, dass es zum Sex zwischen Zac und Grace gekommen ist, denn Zac hat eine Filmaufnahme angefertigt und diese, die man nur als Porno bezeichnen kann, online gestellt: Im halbminütigen Clip sieht man Grace sich nie wehren, sieht man sie nie „stop!“ sagen … keiner glaubt Grace, dass sie Zac deutlich abgewehrt hat, ehe sie bewusstlos geworden ist, nachdem sie zuvor zu viel getrunken hatte.
Und ohnehin: Was habe sie denn erwartet, wenn sie sich betrinkt? Wenn sie sich so aufreizend anzieht? ... Victim Blaming in Reinkultur.

In den folgenden kurzzeitigen Ferien findet sich Grace dazu verdonnert, die Schliessfächer zu säubern, an der Seite von Ian wieder, den sie schon so lange toll fand – und der zu Zacs besten Freunden zählt.
Auch Ian fühlte sich schon länger zu Grace hingezogen, aber nun, nachdem sie Zac derart verleumdet, denn Zac kann doch nicht wirklich Grace vergewaltigt haben und vielleicht ist das ja alles nur ein Missverständnis?! Doch Grace weicht keinen Milimeter von ihrer Aussage ab und sie wirkt auch so ganz „anders“, als sei sie tatsächlich traumatisiert, als sei ihr tatsächlich Schlimmes angetan worden … hat Zac vielleicht doch…? Aber nein, das kann doch gar nicht sein?!
Je länger Ian darüber nachdenkt und Zacs Verhalten gegenüber Anderen, insbesondere dem anderen Geschlecht, gegenüber beobachtet, desto mehr gerät er auch darüber ins Grübeln, ob er sich in der Vergangenheit selbst nicht auch schon wie solch ein arroganter, rücksichtloser Idiot aufgeführt hat.
Aber Zac ist einer seiner engsten Vertrauten, und „bros before hoes“ gilt doch vorbehaltlos?!

Patty Blount: „Some Boys“


„Some Boys“ ist, gemeinsam mit Brittainy C. Cherrys „The Fire between High & Lo“, bislang der Roman, dessen Lektüre mich in diesem Jahr am Meisten berührt hat: Dabei würde ich „Some Boys“ definitiv als „wertiger“ einstufen, weil es hier vornehmlich um die message und die Gedankenanstösse ging und „The Fire between High & Lo“ doch eher als Unterhaltungslektüre angelegt ist.
Im Anschluss an „Some Boys“ finden sich hingegen sogar noch Fragestellungen, die dazu dienen sollen, das Gelesene selbst nochmals zu reflektieren und die quasi auch als Unterthemen bzw. als ein roter Faden genutzt werden können, sollte der Roman als Unterrichtslektüre herhalten.
Dies ist definitiv auch einer der Jugendromane, die ich ab der 10. Klasse auch als Schullektüre sehen kann. (Im Roman wird im Unterricht übrigens just Shakespeares „Der Widerspenstigen Zähmung“ besprochen und in der Handlung von „Some Boys“ kommt häufiger das Thema des damaligen und des gegenwärtigen Frauenbildes auf, so dass man das Buch wohl durchaus auch fächerübergreifend zum Thema machen könnte, sofern man nicht gar beide Werke direkt im Englisch-Unterricht besprechen wollen würde.)

„Some Boys“ wird abwechselnd von Grace und Ian erzählt, wobei beide Standpunkte klar sind, zwar vielleicht nicht immer nachvollziehbar, aber ich konnte durchaus akzeptieren, dass jeder so ist, wie er nun mal ist, auch wenn ich beispielsweise von Ian frühzeitig erwartet hätte, dass er mal den Mut aufbringt, den Mund aufzumachen und eben doch auch mal wen zu verraten anstatt schweigend abzuwinken.
Während der gemeinsamen Putzarbeit nähern sich Grace und Ian durchaus einander an; hier scheint wieder eine freundschaftliche Vertrauensbasis zu entstehen, aber ausserhalb dieser Beschäftigung geht Ian doch klar wieder in Abwehrstellung und steht auch dann nicht zu Graces Gunsten auf, wenn er es als Einziger könnte.
Grace fühlt sich nahezu völlig alleingelassen; ihre Mutter hält zwar bedingungslos zu ihr und unterstützt sie, sieht aber zu genau, wie schlecht es Grace geht und scheint vom Gedanken, dass Grace ein Auslandsjahr absolvieren könnte, ganz angetan zu sein. Auch Grace liebäugelt immer wieder damit, ihr Umfeld hinter sich zu lassen und neu anfangen zu können, aber: Sie hatte vorher doch ein ganz gutes Leben und wieso soll sie gehen, wo sie doch nichts falsch gemacht hatte?!
Ihr Vater, der die Mutter und sie schon vor Jahren verlassen hat und generell ein Problem mit Graces auffälligem Kleidungsstil hat, scheint wie die Meisten auch Grace die Schuld zu geben, sollte Zac sie tatsächlich vergewaltigt haben: So wie sie sich anzieht – kein Wunder, dass ein Kerl seine Finger da nicht bei sich behalten kann. Aber vielleicht ist ihr Vater mit der ganzen Situation auch nur überfordert?!

„Some Boys“ erzählt eine Geschichte, die wütend macht: Wieder und wieder wird darauf hingewiesen, dass Graces Aussehen eine Einladung zum Betatschen gewesen sei, dass sie ja betrunken gewesen sei … erschreckend auch Ians Versuch, das ganze unklare Geschehen als „Missverständnis“ deklarieren zu wollen, bei dem Zac unglücklicherweise Graces Abwehr fehlinterpretiert habe, wohingegen Grace vielleicht ausgenüchtert einfach nur geglaubt hätte, sie habe „nein“ gesagt, obwohl das nicht der Fall gewesen wäre. 

Zugleich ist Grace eine sehr beeindruckende Figur, die sich nicht scheut, ihrem Vergewaltiger Tag für Tag auf den Schulfluren zu begegnen, die die ihr entgegenbrachte Verachtung und den Unglauben wieder und wieder über sich ergehen lässt und die einfach kämpft, obschon sie seit der Vergewaltigung wiederholt mit Panikattacken zu kämpfen hat. Sie ist wie eine Boxerin, die wiederholt in den Ring steigt, wissend, diesem nicht ohne weitere Blessuren entsteigen zu können.
Graces Kampfeswillen, ihr Mut, gegen Zac auszusagen, ihr Beharren auf dem gewohnten Alltag: Das macht sie durchaus zu einer Vorbildfigur.

Ians Charakter ist hingegen wohl eher so konzipiert, dass sich das Gros der Leser eher in seine Rolle einfinden soll: Wie würde man selbst reagieren, wie könnte ein faires Verhalten aussehen, befände man sich selbst zwischen Opfer und Täter, ohne sicher zu sein, dass es dort ein Verbrechen gab? Soll man sofort wen als Lügner abtun, würde man einem der Beiden sofort sein volles Vertrauen aussprechen und den Anderen auch offen angreifen, sollte man sich von Beiden zurückziehen, kann man je ein sicheres Urteil fällen?!

Hier hat das Ende bei mir auch einen leicht schalen Beigeschmack hinterlassen, klang es doch zu sehr danach als könne dem Opfer nur getraut werden, wenn es eindeutige Beweise gäbe. Klar, generell gilt die Unschuldsvermutung, aber hier tönte es mir zu sehr als könne es absolut nicht sein, dass Grace vergewaltigt worden sein könnte, würde es eben keinen deutlichen Beweis geben. Während Graces Glaubwürdigkeit allerdings sofort in Frage gestellt wurde, schien Zac über jeden Zweifel erhaben zu sein und durfte sich weiter in seiner Rolle als Liebling der Schülerschaft sonnen; da gab es keine Momente von Unsicherheit, wer von Beiden nun lügen würde.
Ian war augenscheinlich die erste Person innert der Schule; die Lehrer beharrten generell auf ihrer „Neutralität“ angesichts der widersprüchlichen, nicht weiter nachprüfbaren Aussagen Graces und Zacs; die „tiefer“ zu blicken begann, Graces Verhaltensänderungen bemerkte – als er eben gezwungen war, sich mit ihr zu beschäftigen.
Weitere Impulse, dass Grace tatsächlich zum Opfer geworden sein könnte, kamen hier eher von aussen; grad Ians Vater tat sich hier sehr vor und regte zu weiteren Gedankengängen an.
Aber wie gesagt: „Intern“ klang mir viel zu viel ausschliesslich Grace entgegengebrachtes Misstrauen durch, selbst ihre besten Freundinnen sagten sich klar von ihr los und ich fand es schade, dass sie, eben abgesehen von ihrer Mutter, von niemandem eine solche Unterstützung und derartigen Rückhalt erfuhr, wie er Zac vorbehaltlos entgegengebracht wurde, dass zu ihr niemand kam und sagte: „Ich glaube dir.“ Es gibt zwar zumindest eine Figur, die ihr heimlich Unterstützung vermittelt, aber wie gesagt: heimlich; dabei gibt es sehr viele Figuren, die bei der besagten Party auch anwesend waren und sich nun eben durch victim blaming hervortun anstatt nur mal zu sagen, dass Zac sich während der Party Grace gegenüber schon eher aggressiv genähert hatte. Es wären also bei diversen Charakteren durchaus Zweifel berechtigt gewesen, ob Zac Grace später nicht doch vergewaltigt hätte … aber wie gesagt: Mich hat es letztlich ein wenig gestört, dass Grace als unglaubwürdig und quasi keines Vertrauens wert galt, solange sie die Vergewaltigung nicht zweifelsfrei beweisen würde können, während niemand einbrachte, dass Zac Grace auch dann zum Geschlechtsverkehr gezwungen hätte haben können, wenn dies nicht zweifelsfrei bewiesen werden könnte.
Da fand ich das Endevon „Some Boys“ ein wenig schade gelöst. Was nichts daran ändert, dass ich dies für einen ganz grossartigen Jugendroman halte!  
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Patty Blount: „Some Boys“ – fantastisches Werk über victim blaming und vor Allem den Mut, unbeirrt für die Wahrheit einzustehen
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„Some Boys“ von Patty Blount, veröffentlicht im August 2014
Amazon: Kindle eBook (6,72€)* / Taschenbuch (7,50€ [347 Seiten])*

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