Montag, 1. Mai 2017

Alex Caan: "Cut to the Bone"

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Detective Inspector Kate Riley hat nur wenig Zeit sich zu wundern, dass ihr Team bereits wenige Stunden nach dem plötzlichen Verschwinden von Ruby Day mit diesem „Fall“ betraut wird, der zunächst nur nach „junge Frau, Anfang 20, hat sich daheim nicht zur spontanen Party abgemeldet“ klingt. Ein klitzekleines bisschen mehr Zeit hat sie, um sich zu wundern, dass YouTube-Videos inzwischen profitable Karrieren begründen: Ruby ist eine der bekanntesten und bei jungem Publikum beliebtesten Vlogger Grossbritanniens und gilt als Person des öffentlichen oder zumindest des digitalen Interesses.
Befürchtungen, dass Ruby entführt worden ist, scheinen sich zu bestätigen, als plötzlich ein Video online gestellt wird, auf dem man die verstörte Ruby  erkennt, die offensichtlich um ihr Leben bangt, fleht und kämpft.

Kate Riley, eine US-Amerikanerin, die es mit nicht ganz so originalen Referenzen zur Londoner Polizei verschlagen hat und die nun mit ihrer mental instabilen Mutter in Großbritannien lebt, muss vor Allem mit Detective Sergeant Zain Harris zusammenarbeiten, der dem Team neu zugeteilt wurde, in welchem er nicht ganz so populär ist: Insbesondere die IT-Spezialistin des Teams fühlt sich durch Zain häufig brüskiert, der sein eigenes IT-Können nicht verbergen kann und auch bereit ist, Polizeigesetze sehr weit zu strecken und sich nicht scheut, auch mal Daten zu cracken.
Sehr früh wird deutlich, dass Kate ihren persönlichen Hintergrund ebenso geheim hält wie Zain für eine zunächst nichtgenannte Drittpartei arbeitet und dieser vertrauliche Informationen über den Fortschritt der Ermittlungen zuspielt und auch Dateien manipuliert, die offensichtlich anzeigen, dass zwischen dieser Drittpartei und Ruby letztlich Verbindungen gezogen werden könnten.

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Weitere Videos erscheinen; enthalten die Ankündigung, dass es hier nicht nur um Ruby geht; und plötzlich finden sich Kate und Zain in diesem Morast wieder, in dem Vlogger gestalkt, bedroht und verehrt werden, in dem Anwälte, Manager und Produktionsfirmen um die Zusammenarbeit mit Vloggern buhlen, in dem sich die Konkurrenz in Gewinner und Verlierer unterteilt, in dem man Verlierer findet, die versuchen, über die Mitläuferspur auf die Gewinnerstrasse zu gelangen, in dem gefaked wird, was gut für die Show ist, in dem die Grenzen zwischen Vorbildfunktion und Wahnsinn zerfliessen, in dem an unerwarteten Stellen Verantwortung, Vernunft und Moral auftauchen und in dem sich letztlich die Frage stellt: Wenn Rubys Verschwinden nicht nur eine zu PR-Zwecken inszenierte Show ist, was macht sie für den oder die Entführer zur Gefahr, an der man ein publikumswirksames Exempel statuieren will, und an wen ist die direkte Drohung, das nächste Opfer zu sein, gerichtet?
Plötzlich sieht sich auch Zain mit den Überlegungen konfrontiert, in welcher Verbindung seine „Auftraggeber“ zu Ruby stehen und wie weit Korruption auch in die Polizeiarbeit hineinreicht; will er tatsächlich dazu beitragen, gewisse Hintergründe zu verschleiern, die es eventuell verhindern, dass der Fall „Ruby Day“ umfassend aufgeklärt werden kann?

Alex Caan: „Cut to the Bone“°°°


Mich konnte man aufgrund der Kurzbeschreibung mit einem Rezensionsexemplar dieses Romans locken, welche da lautete:

Ruby Day is a young vlogger, a rising star of YouTube, and a wholesome role-model to millions of teenage girls. And she is missing. Detective Inspector Kate Riley, the head of a new high-powered team of detectives, and Detective Superintendent Zain Harris, the newest member of the team and a poster boy for multiracial policing, are brought in for what they expect to be a routine runaway. Then a video of a wild-eyed Ruby running through the woods and begging for her life is posted online. Amid mounting hysteria and heightened media coverage calling for Ruby’s safe return, Riley and Harris must decode the dark secrets of this seemingly squeaky-clean internet darling. Their hunt leads them to a smug ex-boyfriend who hungers for online fame of his own, a culture of online cyber bullying by anonymous thugs, and a corporation of ruthless advertisers who exploit online celebrities for their network of eager consumers. It becomes increasingly clear that the case is more complicated and nightmarish than Riley and Harris could have imagined. And the videos keep coming . . .

Letztlich fand ich diesen Thriller auch absolut überzeugend, obschon er mich mit der Fokussierung auf mehrere Aspekte der Geschichte schon sehr überraschte: Zunächst hatte ich in erster Linie mit einem ziemlich „klassischen“ Krimi gerechnet, in dessen Zentrum Rubys Verschwinden eine Alleinstellung einnehmen würde.
Die Geschichte schmeisst einen hier auch gleich ins kalte Wasser, denn sie setzt an dem Punkt ein, an dem Kates Team just beauftragt worden ist, Rubys Verschwinden aufzuklären: Man bekommt also weder Ruby noch die Ermittler zunächst vorgestellt, man ist direkt mittendrin.
Dass Kate mit ihrer Mutter, die eine Betreuung braucht, aus den Staaten übergesiedelt ist, wird ebenso wie ihre falschen Referenzen, denen sie ihre jetzige berufliche Position zu verdanken hat, wird auch sehr frühzeitig erwähnt, ohne den genauen Hintergrund des Ganzen zu erläutern: Man weiss also nicht, wie sehr man Kate tatsächlich trauen kann; Kates Biografie wird erst im weiteren Verlauf der Geschichte erklärt.
Ähnlich wenig erfährt man auch von Zain, liest aber sehr schnell davon, wie er Vertraulichkeiten weitergibt und kann mutmassen, dass er eventuell entweder von den „Bösen“ bestochen wird oder aber dass er quasi undercover Kate beschatten soll.
Als Leser ist man also im Verlaufe der Erzählung herausgefordert, die drei Personen Ruby, Kate und Zain voneinander abzugrenzen und hier drei verschiedene Personalien auseinanderzuklamüsern.
Das klingt nun sehr viel komplizierter als es letztlich nachzuverfolgen war.

Persönlich fand ich Kates anfängliche Ahnungslosigkeit bezüglich YouTube und Vlogging im Allgemeinen ein wenig anstrengend; das erinnerte mich zu sehr an die Protagonistin aus dem RomCom-Roman „Reinventing Mona“, die mit knapp 30 angeblich noch nie etwas von eBay gehört haben sollte. Allerdings würde ich „Cut to the Bone“ so auch meiner Mutter geben können (für die „man kann mit YouTube-Videos Geld verdienen“ definitiv ein Buch mit sieben Siegeln wäre), da Zain es hier Kate eben sehr genau erklärt, dass es eben für jeden verständlich sein sollte.
Allerdings wäre meiner Mama trotzdem wohl zuviel „von diesem ganzen technischen Kladderadatsch, ist doch alles Blödsinn“ enthalten, da sich die Erzählung halt sehr auf die digitalen Medien fokussiert und man sich hauptsächlich durch diesen „Internetkosmos“ bewegt.

Besagter Kosmos ist hier aber sehr gut aufbereitet und man begegnet allen möglichen Charakterisierungen, vom reinen Spass-YouTuber, der sich in der Bewunderung seiner Fans sonnt, über den Manipulativen, der nur seine eigenen dunklen Zwecke im Sinn hat, hin zum Vlogger, dem es wichtig ist, seine Popularität zu nutzen, um an das soziale Gewissen seines Publikums zu appellieren. Hier werden allerdings lediglich die Vlogger angesprochen, deren Zielgruppe im Bereich der 12-25Jährigen liegt; man trifft hier also nicht auf Vlogger, die sich mit Alltagsthemen, Berufsfeldern, Nachrichten, DIY-Clips etc. beschäftigen, von daher ist „Cut to the Bone“ durchaus in gewisser Weise auch als Jugendroman geeignet, da Jüngere die Buchcharaktere durchaus auf ihnen bekannte YouTuber übertragen könnten und ein ihnen eben vertrauter Bereich abgebildet wird.
Zudem wird hier sehr offen angesprochen, dass es hier auch sehr viel „Show“ gibt, dass Partnerschaften zwischen populären YouTubern gegebenenfalls einfach nur inszeniert sind, dass im Internet nicht jeder die Person sein muss, für die er sich ausgibt oder die man in ihm zu erkennen glaubt. Da geht es doch auch schon sehr um die Gefahren, denen man hier begegnen kann; da gefiel es mir ganz gut, wie nüchtern das hier erläutert wurde und dass eben nicht völlig hysterisch in „Internet ist durch und durch böse, traue keinem“ ausgebrochen wurde.

Was eingangs eher nach einem simplen Beziehungsdrama unter YouTubern tönt, entfächert sich dann doch in einer sehr authentischen Komplexität und plötzlich scheint der Fall „Ruby Day“ globalen Einfluss widerzuspiegeln: Die Auflösung des Ganzen ist letztlich authentisch, aber auch desillusionierend, da die gesamte Handlung in der Frage nach Moral und Verantwortung mündet. Das ist nun nicht falsch zu verstehen, mitnichten gibt es ein offenes Ende, aber zuvor wird so viel Gesellschafts- und Sozialkritik angebracht, das Augenmerk auf ökonomischen Wahnsinn gelenkt, welcher von Profitgier angetrieben wird: Man kann diese komplette Kritik getrost der Geschichte entnehmen und versuchen, selbst entsprechende Konsequenzen zu ziehen; denn das Konstrukt, was hier angeprangert wird, ist zweifelsohne keine Fiktion und auch in unserer Realität traut sich kaum jemand daran zu rütteln, da der individuelle Einfluss kaum als relevant betrachtet wird. Da werden Dinge angeführt, von denen jeder informierte Mensch, der mit offenen Augen und Ohren durch die Welt geht, weiss, die er aber lieber ignoriert, weil: „ist halt bequemer und ich allein kann da eh nix dran ändern“. Auch in „Cut to the Bone“ wird letztlich diese Resignation deutlich, der sich auch schon sehr, sehr viele der vermeintlichen „Influencer“ unterwerfen, denn mit Moral und Ethik kann man eher selten ein profitables Geschäft machen.

Ich fand „Cut to the Bone“ einen toll zu lesenden, nachhallenden Roman, dessen Inhalt quasi zum Austausch miteinander einlädt und der einem auch eine kritische Auseinandersetzung mit Social-Media-Inhalten nahelegt. Ich sehe den Roman dabei auch als absolut geeignete Schullektüre (in dieser englischsprachigen Originalfassung sprachlich ab ca. 10. Klasse) an, wenn es um den Umgang mit Medien geht; zudem kann man die Inhalte tatsächlich querfeldein fächerübergreifend bearbeiten. In diesem Fall würde ich mir eine deutsche Übersetzung ohnehin auch dringend wünschen, um eine grössere Masse erreichen zu können.
Dabei ist dieser Roman nun eben kein expliziter Jugendroman, sondern allgemein als Krimi bzw. Thriller gekennzeichnet: Zweifelsohne sehr interessant für alle Fans von Spannungslektüre, die vom aktuellen Zeitgeist geprägt ist.
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Alex Caan: „Cut to the Bone“ – ein Thriller, der eingangs wie eine Abrechnung mit den Entertainment-Vloggern wirkt und letztlich eine Abrechnung mit Moral, Ethik, Anstand und Verantwortungsbewusstsein der gesamten Gesellschaft der modernen Welt ist. Sehr lesenswert!
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“Cut to the Bone” von Alex Caan, erschienen November 2016
Amazon: Kindle eBook (4,44€)* / Taschenbuch (9,99€ [424 Seiten])*            

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